Letztens habe ich wieder für Aufruhr gesorgt, als ich felsenfest behauptete, die letzten Jahre sei der November ein wunderschöner Kletter-Monat gewesen. Für uns war es so, aber niemand sonst war meiner Meinung. Erst lange danach ist mir klar geworden, warum die Meisten den November hassen: ich sitze selbst in der Nebelsuppe und frage mich, ob es die Sonne überhaupt noch gibt. Dabei müsste ich es eigentlich besser wissen, denn an solch trüben Tagen muss man zum Klettern hinauf auf den Berg! Doch gerade in der Übergangszeit sind die Anforderungen an ein Klettergebiet besonders hoch: südseitig sollte es sein, mit guter Felsqualität und abwechslungsreichen Routen; wenn möglich schnell erreichbar und gut abgesichert. Und dabei möchte man natürlich nicht ständig die gleichen Routen klettern. Am besten weit oben, um über den Wolken und mit schöner Aussicht einen Hauch von alpiner Freiheit zu spüren. Die “eierlegende Woll- Milch- Sau”, wohin also – vielleicht zum Klettern am Brauneck?
Liebe auf den zweiten Blick
“Sportklettern am Brauneck, dem alten Lenggrieser Hausberg? Gibt es dort überhaupt Felsen?” Auch wir wollten lange Zeit nicht glauben, dass es direkt vor unserer Haustür ein südseitiges Klettergebiet mit alpiner Kulisse gibt. Aber manche Erfahrungen muss man eben selbst machen. „In einem zweijährigen Erschließungsrausch wachgeküsst“, heißt es poetisch im Kletterführer, der über 250 abwechslungsreiche Routen verspricht. Genügend Linien für viele, viele Herbst- und Wintertage.
Die Landschaft im Isarwinkel ist geprägt von bewaldeten Hügeln, grünen Almwiesen und vergleichsweise lieblichen Gipfeln. An Klettermöglichkeiten mangelt es deshalb trotzdem nicht. Am Bergkamm zwischen den Gipfeln von Brauneck, Latschenkopf und Achselköpfen liegen verstreut zahlreiche kleine Felsen. Abseits der Hauptwege, teils etwas versteckt, bieten sie die von vielen ersehnte Ruhe und Einsamkeit. Der beeindruckende Weitblick reicht vom Mangfallgebirge über das Rofan und Karwendel bis herüber zum Wetterstein. Am Brauneck ist man in erster Reihe für das gesamte Alpenpanorama. Es vereint alle wichtigen Vorzüge: kurze Anfahrt, interessante Linien, geniale Aussicht und Einkehrmöglichkeiten auf urigen Berghütten. Was will man mehr?
Willkommen bei den Stie’s
Erst einmal die Finger aufwärmen. Vielleicht dort anfangen, wo auch die jüngere Erschließungsgeschichte des Klettergebietes begann, nämlich im Stie-Alm Kessel. Direkt hinter der bewirtschafteten Alm beginnt der Hauptsektor Wilderland mit einer Vielzahl an Routen aller Schwierigkeitsgrade im geneigten bis senkrechten Kalk. Nach ein paar leichten Routen steht fest: der Fels bietet gute Strukturen, griffige Leisten und hat eine super Reibung. Also auf zum nächsten Level! Ein Dach mit großen Griffen wie in Arakis (7+) dürfte ja kein Problem sein…oder? Danach der harmlos wirkende, aber ganz schön verzwickte Erste Ameisenweg (7-) und gleich daneben in Same same but different (8-) der Test für Fingerkraft und Ausdauer. Die Hauptwand und die umliegenden, kleinen Sektoren können leicht zu einer tagesfüllenden Klettereinheit werden.
Auf dem Weg zum Zirkuskessel steht unübersehbar der Gamskopf, eine kleine Felsnadel mit Gipfel-Steinbock aus Beton. Geschmack hin oder her, der athletische Dach-Ausstieg von Laminator (7) vor dem Panorama der bayerischen Voralpen ergibt ganz nebenbei auch schöne Kletterfotos. Dieses feine Schmankerl kann man auf dem Zustieg oder Rückweg noch gut einbauen.
Ab in den Zirkus
Nicht nur für Geologen sehr interessant ist die grau-orange Felsformation der Zirkuswand. Was aus der Ferne (wenn man einmal ehrlich ist) eher nach Bruch aussieht, entpuppt sich nach klettertechnischer Erkundung als purer Spaß an Seitgriffen und Schuppen. Ausgesprochen “interessante” Linien. Der außergewöhnliche Felsriegel aus senkrecht gestuften, aufeinander liegenden Felsschichten ist eine super Übung für die Fußtechnik und die Koordination. Von wegen Schuppenterror (6)! Selbst der lange Schneesturm (7) ist bei solch positiven Griffen ein Genuss -zumindest, wenn man sich darauf einlässt.
Ein kleines Stück weiter im Sektor Balkon wartet gleich die nächste Überraschung: leichte Plattenkletterei an riesigen Wasserlöchern. Die Wand ist auf der linken Seite wie ein Schweizer Käse und bietet wunderschöne Henkelparaden – wie zum Klettern gemacht. Nur nach rechts hin wird sie etwas kompakter und auch schwerer. So richtig Dampf im Kessel macht Chilli (8-), mit einem Piaz, der es in sich hat. Und wo wir schon beim Piaz sind, ist es auch bis zum Riss nicht mehr weit.
Hand im Löwenkäfig
Risse lassen zwar nicht jedes Kletterer-Herz höher schlagen, aber das könnte sich hier vielleicht ändern? Im Kalk sind schöne Risse eigentlich sehr selten. Umso erstaunlicher, dass die Wände am Brauneck gleich mehrere tolle Riss-Verschneidungen zu bieten haben. „An Zirkusriss (7-) müsst‘s unbedingt maha…“, das lassen wir uns nicht zwei Mal sagen. Wer es über die abdrängenden ersten Meter schafft, kann sich an traumhafter Kletterei erfreuen – ob in Piaz- oder Klemmtechnik. Echte Riss-Fans finden etwas westlich der Stie-Alm ein weiteres Highlight; den Devil’s Crack (7) an der Felsnadel Herr Nilson im Sektor Taka Tuka Land. Und ich wette, diese Liste könnte man noch fortsetzen.
Langsam tasten wir uns also an etwas wildere Linien mit einem Hauch von Abenteuer heran. „Nichts für Plastikkletterer, muss man gemacht haben“, stichelt der Kletterführer bei der Beschreibung zur Route Furchtfurche (7/7+). Dass uns der Autor hier in ein kleines Test-Piece lockt, liegt auf der Hand. Dennoch, die Neugier siegt: was hat es damit wohl auf sich?! Der Einstiegskamin und der hängende Offwidth-Riss fordern vom Kletterer bewegungstechnisch Kreativität und Mut zur Lücke. Die kritische Frage lautet immer wieder aufs Neue: innen oder außen klettern? Eine Entscheidung zwischen schmerzender Enge und unangenehmer Leere, oder einfach eine Frage der Technik. Es wäre wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass die Route auch für Kletterer höherer Schwierigkeitsgrade eine Herausforderung darstellt. Die Tour ist dennoch oder gerade deshalb absolut empfehlenswert. Wer sich Schwierigkeitstechnisch noch steigern möchte, dem sei Gula (9-) im Sektor Raubtierkäfig ans Herz gelegt. Die überhängende Riss-Verschneidung kann ganz schön einheizen.
Über den Wolken
Dies sind nur einige wenige Kletter-Schmankerl, die über dem Isartal auf euch warten. Gemütlich von Fels zu Fels ziehend die schönsten Linien abgrasen, das geht nicht nur im Herbst, sondern auch im frühen Winter und teils bis tief in den Dezember hinein. Das Brauneck ist ein Gebiet mit vielen kleinen Herausforderungen, in dem sich Felssüchtige ganz wunderbar den Winter verkürzen können. Es ist ein wahres Privileg, hoch über der trüben Nebeldecke noch einmal im T-Shirt kletternd die Sonne zu genießen, während im Tal auf den Weihnachtsmärkten schon Glühwein ausgeschenkt wird.
Kletterführer:
“Bayerische Alpen Band III” von Markus Stadler, Panico Verlag, 2015
Material:
Für die Mehrzahl der Routen reichen ein 60m Einfachseil und 12 Express- Schlingen. Manche Routen sind jedoch über 35m lang, sodass man nur mit einem 70m Einfachseil auf der sicheren Seite ist. Trotz Sportkletter-Ambiente ist ein Kletterhelm ratsam.
Tendon Hattrick 10.2mm (Einfachseil)
Klettergurt Onyx und Garnet, Helm Penta
Kletterschuhe Tenaya RA und Triop Tiger
Anfahrt:
Mit dem Auto: über die A8 Richtung Salzburg bis zur Ausfahrt Holzkirchen oder A95 Richtung Garmisch-Partenkirchen bis zur Ausfahrt 9 Sindelsdorf, weiter nach Bad Tölz und über die B13 nach Lenggries bis zur Ausfahrt Lenggries/Wegscheid. Über die Isarbrücke in Richtung Brauneckbahn.
Mit Öffis: die Bayerische Oberlandbahn (BOB) verkehrt im Stundentakt zwischen München und Lenggries, ab Lenggries Bahnhof in 7 Minuten mit der RVO (Linie 9564 oder 9595) zur Brauneckbahn.
Bergbahn:
Brauneck Bergbahn, Gilgenhöfe 28, D-83661 Lenggries, Tel. 08042 503940, Betriebszeiten 8:15 Uhr – 16:30 Uhr (bis 17 Uhr im Sommer), Revisionszeit der Bergbahn (14 Tage nach Ostern und 14 Tage im November), www.brauneck-bergbahn.de
Zustieg:
Von der Brauneckbahn Bergstation mühelos über gut beschilderten, fast ebenen Panoramaweg in 35 Minuten zur Stie-Alm bzw. je nach Sektor vorher abbiegen.