Seit gut drei Jahren klettere ich, mal mehr, mal weniger. Zurzeit definitiv mehr, denn ich habe ein Problem. Ich habe Angst vor dem Klettern und Angst vor dem Fallen. Das passt doch nicht zusammen, oder?
Denn eigentlich sind Kletterer doch mutig und furchtlos. Sturzangst existiert nur in Büchern und wenn man Angst hat, dann vermeidet man eben solche Situationen und bringt sich nicht absichtlich in „Gefahr“.
In der Anfangszeit habe ich selbst keine Begegnung mit der Angst erlebt. Gemütlich konnte ich Routen spulen, denen ich gewachsen war. Ein möglicher Sturz wurde halt vermieden. Doch wie es der Natur des Menschen entspricht, meldet sich irgendwann der Ehrgeiz und man möchte den nächsten Schwierigkeitsgrad erreichen. Und da war sie, die Sturzangst, und traf mich mit voller Wucht.
Wie sich die Sturzangst bei mir bemerkbar machte
Was sich in der Halle noch in Grenzen hielt, entwickelte sich am Felsen schnell zur regelrechten Sturzpanik. Meistens merke ich schon am Einstieg, dass irgendwas nicht stimmt. Mein Körper scheint nicht aufmerksam zu sein und meine Atmung ist flach. Ich freue mich nicht aufs Klettern, vielmehr baut sich ein unglaublicher innerer Druck auf: „Ich darf nicht versagen, ich muss schön klettern und hauptsächlich darf ich nicht fallen.“ Also steige ich ein, klettere die ersten Züge und komme nicht in die Gänge.
Jede Bewegung ist anstrengend und man fühlt keinen Flow. Der Kopf denkt nicht an den Moment, sondern ist immer einen Schritt voraus. Denkt an die möglichen Schlüsselstellen und in mir schnürt sich alles zu. Insgeheim weiß ich bereits jetzt, dass ich scheitern werde.
Wenn dann die erste schwierige Stelle kommt, zögere ich viel zu lange. Ich überprüfe, wo sich die letzte Exe befindet, checke das Sturzgelände. Ein schneller Blick nach oben sagt mir, dass es bis zur nächsten Exe definitiv zu weit ist und ich die Züge bis dahin niemals schaffe. Ich werde nervös, meine Hände schwitzen und mein Puls rast. Meinen Atmen halte ich an und meine Arme werden schwach. Ein schneller Blick nach unten sagt mir, dass ich sterbe, wenn ich falle. Verzweifelt rufe ich „Zu!“ nach unten und klettere bis zur letzten Exe ab. Ich kralle mich immer noch an der Exe fest, da ich nicht mal Vertrauen in mein Seil habe, noch in meinen Partner.
An weiterklettern ist nicht mehr zu denken. Ich kann keinen klaren und logischen Gedanken mehr fassen. Ich bin enttäuscht. Mein ganzes Training ist offensichtlich umsonst!
Konsequente Inkonsequenz
Drei Tage später nehme ich die Kletterschuhe und pilgere wieder zum Felsen. Warum, weiß ich bis dahin selbst noch nicht. Der Tag fühlt sich an wie jeder andere auch. Doch heute macht Klettern Freude. Ich traue mich in unbekannte und schwere Routen und habe keine Angst vor dem Fallen. Ich bin mir absolut bewusst, wie weit die Hakenabstände sind und wo ich womöglich fallen könnte.
Jeder Move fühlt sich richtig an und mein Kopf ist still. Ich fliege förmlich die Wand hinauf und fühle keine Anstrengung. Ich kann sogar den Ausblick genießen. An den Hakenabstand denke ich für keine Sekunde und mein Geist ist vollkommen wach. Ich fühle mich vollkommen frei und richtig stark. Am Umlenker fühle ich die Bestätigung, dass ich anscheinend doch klettern kann. Oder war das Zufall?
Zurück bleibt große Verwirrung. An einem Tag kann ich keinen 5er vorsteigen, am anderen Tag kann ich einen 8er Rotpunkt klettern. Irgendwas stimmt doch nicht mit mir?
Der Grund für die Sturzangst
Als ich diesen Widerspruch realisiere, beginne ich Nachforschungen anzustellen, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Denn man kann ein Problem nur lösen, wenn man weiß, woher es kommt. Jedem, der mit Sturzangst zu kämpfen hat, empfehle ich, in sich hineinzuhören und die Ursprünge zu hinterfragen. Doch diese Angst ist ein sehr individuelles Gefühl.
Je mehr ich angefangen habe, ernsthaft an meinem Problem zu arbeiten, desto mehr fielen mir andere Kletterer auf, die ähnliche Verhaltensmuster zeigten. Dazu gehören: zögerhaftes Klettern, sobald man über die Exe klettert, extrem überstrecktes Einhängen des Seils, verkrampftes Klettern in leichten Stellen und Festkrallen an jedem einzelnen Griff.
Einige Kletterer habe ich darauf angesprochen. Zunächst ist mir aufgefallen, dass niemand gerne und stolz darüber spricht. Sturzangst ist scheinbar ein Tabuthema. Doch sobald man den Mut aufbringt zu seiner Angst zu stehen, ergeben sich konstruktive und interessante Gespräche über Gefühle, Zweifel und Ängste, von denen man noch nie gehört hat und die oft auch nichts mit dem Klettern zu tun haben. Häufig steht die Angst vor dem Scheitern auch im Vordergrund, Probleme aus dem Alltag werden auf den Sport übertragen. Und glaubt mir, es gibt viel mehr Kletterer mit Sturzangst als man denkt.
Dem Problem auf der Spur
Mir half es zunächst überhaupt zuzugeben, dass ich in offensichtlich kinderleichten Situationen Angst habe.
Mein Angstproblem entstand an meinem ersten Tag am Felsen. Mein damaliger Sicherungspartner ignorierte gekonnt alle Seilbefehle und ein „Zu“ half nichts. Seitdem habe ich damit zu kämpfen, meinem Partner zu vertrauen und zu realisieren, dass mich das Seil auffängt. Damals fühlte sich Vorstiegsklettern wie Free Solo an.
Wenn man ein Vertrauensproblem entwickelt oder negative Erfahrungen gemacht hat, ist absolut ratsam, das offen zu kommunizieren und auf die Beachtung der Seilbefehle zu bestehen. „Zu“ ist einfach „Zu“. Und es ist vollkommen in Ordnung den Kletterpartner zu wechseln, sollte dieser nach seinen eigenen Regeln spielen. Um das Problem zu ergründen und eine Lösung zu finden, ist Ehrlichkeit – zu sich selbst und zum Kletterpartner – der erste Schritt.
In den Gesprächen stellte sich häufig heraus, dass sich viele missverstanden und nicht ernst genommen fühlen. Dafür muss man aber die Angst klar äußern!
Schritt für Schritt – Exe für Exe
Als nächste Station auf der Reise sollte man das eigene Gefühl hinterfragen. Ist die Angst überhaupt begründet oder bildet sich der Kopf das nur ein? Lasse ich mich von meinen Emotionen leiten oder kann ich versuchen meinen Verstand zu integrieren?
Grundsätzlich ist es am besten auf sein Bauchgefühl zu hören, jedoch kann es in einer panischen Situation vorkommen, dass Fakten verzerrt wahrgenommen werden. Beispielsweise kann ein Hakenabstand in meinem Kopf viel weiter erscheinen, als in der Realität ist. Ein potenzieller Sturz ist in der Sturzangst-Fantasie tödlich, in Wirklichkeit maximal zwei Meter weit. Bevor man in eine Route einsteigt, hilft es, die Hakenabstände zu betrachten, um die Situation abschätzen zu können – ohne den Druck klettern zu müssen.
Befindet man sich in der Route, ist es zu Beginn angenehm, sich nicht gleich wieder zu überfordern. Kleine Schritte stärken das Selbstbewusstsein – das ist der Schlüssel zum Erfolg.
Um einer Panikattacke zu entkommen, stelle ich mir gewisse Regeln auf, denn Routine fördert meine Sicherheit: zuerst Einbinden, dann Schuhe anziehen, chalken und dann Partnercheck.
Schon bei der ersten Kletterbewegung achte ich penibel darauf, einzig auf den jetzigen Zug konzentriert zu sein, ich denke niemals an die kommende Schlüsselstelle. Ich denke von Exe zu Exe und setze mich nicht unter Druck den Umlenker zu erreichen. Ein wichtiger Baustein ist hier die bewusste Atmung: je gleichmäßiger ich atme, desto ruhig ist mein Geist.
Ich spreche innerlich Mantras: „Du hast unendlich viel Kraft“, „Der Griff ist ein Henkel“, „Du kannst in Ruhe einhängen“. Sagt man sich diese Sätze oft genug, glaubt man sie mit der Zeit wirklich!
Das Selbstbewusstsein: Du bist stark, Du schaffst das!
Schlussendlich läuft es jedoch auf das Selbstbewusstsein hinaus, das man beständig aufbauen muss, um die Kraft zu haben dieses Problem zu bewältigen.
Steht man anfangs wie ein Häufchen Elend am Wandfuß, nachdem man erneut versagt hat, wird das von Mal zu Mal besser. Man betrachtet das Scheitern nicht mehr als Misserfolg, sondern nimmt es bewusster wahr und kann Positives daraus ziehen, da man lernt, damit umzugehen. Scheitern ist nicht schwach, scheitern macht stark! Man lernt sich und seine Grenzen intensiver kennen.
Obwohl ich nun mehr positive Tage am Fels verbringe, gibt es nach wie vor Angsterlebnisse und man fühlt sich wieder an den Anfang zurückgeworfen. Warum ich mir das antue? Ganz einfach, die Liebe zum Klettern überwiegt die Angst vor dem Fallen und die Angst vor dem Scheitern. Wenn man für etwas brennt, nimmt man vieles in Kauf.
Sei mutig und gib nicht auf!
Grundsätzlich sollte umgedacht werden: einige Kletterhallen gehen mit gutem Beispiel voran und bieten spezielles Sturztraining an, doch auch die Community sollte dieses Thema nicht verdrängen. Schließlich ist Angst ganz natürlich und bewahrt uns vor dem Aussterben.
Das hier ist auch ein kleiner Aufruf an alle Angsthasen unter den Kletterern! Du bist mit dem Problem nicht allein. Sei mutig und geh mit Deiner Angst offen um. Sie ist nichts, wofür man sich schämen muss. Ergründe den Ursprung, fühl in Dich hinein und pack es an! Wenn Du das Klettern so liebst, wie ich es liebe, dann ist es jede Mühe wert. Es werden schlechte Tage kommen, an denen man alles wieder infrage stellt und am liebsten aufgeben möchte. Mach weiter! Glaub an Dich und steh diese Momente durch.
Das Gefühl, eine Route, egal wie schwer, angstfrei durchgestiegen zu sein, ist unbezahlbar. Für diese Freiheit lohnt es sich, weiterzukämpfen. Falls Du wieder am Verzweifeln bist, halte an solchen Momenten fest und gönnt Dir ruhig mal einen Moment zum Durchatmen und ein paar Tage Kletterpause.
Mit der Zeit werden mehr sonnige Tage als Regentage kommen. Es erfordert einiges an Geduld, Disziplin und Stärke, um die Sturzangst von Grund auf aufzuarbeiten, jedoch wäre es langweilig, wenn man alles geschenkt bekommt. Aber in dieser Hinsicht siegt die Sturheit!
Stärke kommt nicht vom Erfolg, wirklich stark wird man erst durch Scheitern.
Wenn Du dann eine Station weiter bist, kannst Du konkretes Sturztraining in Angriff nehmen. Im Basislager-Blog findest Du einen weiteren interessanten Artikel zu verschiedenen Übungen, um das richtige Fallen zu trainieren und Dich langsam heranzutasten.