„Ei, ei, ei, Vorstieg ist echt nicht ohne“, dachte ich, als ich die Kletterschuhe auszog, um den schmerzenden Zehen und Knöcheln etwas Luft zu gönnen. Kurz zuvor war ich mit zugelaufenen Unterarmen aus der Route gekippt und durch den Sturz waren die Füße hart gegen den Fels geprallt. Ich wusste zwar schon, dass zwischen Topropeklettern (also Seilsicherung über einen Umlenker von oben) und Vorstieg (Seilsicherung ohne Umlenker von unten) ein Unterschied besteht, doch dass er so groß ist, hat mich dann doch etwas irritiert. Allerdings war er vor allem deshalb so groß, weil wir nicht wirklich Ahnung von dem hatten, was wir machten und von dynamischen Sichern schon gleich gar nicht.
Rausklettern aus dem Tal der Ahnungslosen
Diese Ahnungslosigkeit lag zum Teil auch daran, dass „damals“ (so um 2001 herum) fundiertes Kletterwissen noch nicht überall und jederzeit abrufbar war. Ich erfuhr jedenfalls erst später und eher zufällig, dass unser „statisches Sichern“ ziemlich suboptimal war und dass es stattdessen „dynamisch zu sichern“ gilt.
Etwas erstaunt hat mich, dass nach Ansicht der Experten von Bergundsteigen heute nach wie vor viele Kletterer ähnlich ahnungslos herumfuhrwerkeln. So heißt es im Bergundsteigen-Artikel zum Thema Sichern: „Dynamisches Sichern – der sagenumwobene heilige Gral der Hallenumkleidekabine. Viele reden davon, die meisten wissen nicht, was gemeint ist, und wenige können es.”
Wenn dem so ist, schadet es bestimmt nicht, dass wir hier die Grundlagen rund um das Thema (dynamisches) Sichern nochmal möglichst anschaulich und übersichtlich zusammenfassen. Während die meisten Artikel sich vorrangig mit der ständig wachsenden Zahl an neuartigen Sicherungsgeräten befassen, soll hier der Fokus zunächst auf den grundlegenden Mechanismen liegen – denn ohne deren Verständnis kann man die vielen verschiedenen Geräte mit ihren Vor- und Nachteilen nicht wirklich einschätzen.
Vorweg noch eine wichtige Anmerkung als „Disclaimer“:
Ich hoffe, dass die theoretischen Prinzipien und Zusammenhänge hier einigermaßen verständlich vermittelt sind. Doch selbst wenn das gelungen ist, kann kein Artikel der Welt das richtige Gefühl und das richtige Maß an Kraft beim Umgang mit Kletter- und Sicherheitsausrüstung vermitteln. Das geht einzig und allein durch praktische Übung! Diese Praxis holt man sich am besten in Kletterkursen und/oder unter der Anleitung und Aufsicht von verlässlichen und erfahrenen Mentoren. Es gibt heute keine Ausreden mehr, um mit gefährlichem Halbwissen an den Fels zu gehen.
Grundposition und -Haltung beim Sichern vom Boden aus
Die Grundposition des Sichernden am Boden ist eine stets reaktionsbereite, leichte Schrittstellung in Richtung des Zugseils, das zum Kletterer führt. Die Führungshand gibt das Seil zum Kletternden aus, während die Bremshand das Bremsseil unter dem Sicherungsgerät den Bewegungen der Führungshand folgt und das Seil jederzeit umschlossen hält. Beide Hände geben dem Kletternden dann in fließenden Bewegungen das Seil aus.
An Zwischensicherungen wird zum Einhängen meist mehr Seil benötigt, das schneller ausgegeben werden muss. Dazu beschleunigt der Sichernde das Seilausgeben durch einen Schritt nach vorn auf die Wand zu. Anschließend verlagert er sein Gewicht wieder auf das hintere Bein und wiederholt falls nötig den Schritt nach vorn.
Die Führungshand bemerkt starken Zug am Seil schon bevor ein eventueller Sturz das Seil durch das Sicherungsgerät zieht. Bremshand und Zughand drücken dann reflexartig zu und blockieren das Seil. Bei der dann folgenden Zugbelastung auf den Sichernden hilft die Führungshand dabei, den Körper richtig zur Wand hin zu drehen und den Aufprall an der Wand zu kontrollieren.
Warum statisches Sichern (meistens) falsch ist
Mein eingangs beschriebener, Füße malträtierender Sturz war übrigens etwa eineinhalb Meter weit, der Bohrhaken befand sich auf Schienbeinhöhe. „Harhar, was ein niedliches Stürzchen“, höre ich die Fachleserschaft schon feixen. Stimmt auch, doch wenn dein Sicherungspartner etwa 20 Kilo mehr wiegt und knallhart „zumacht“, weil er vom dynamischen Sichern auch nicht mehr weiß als du, dann bildet deine von der Seite betrachtete Flugbahn einen ziemlich ungünstigen Halbkreis.
Der Aufprall erfolgt dann fast frontal, im 90 Grad Winkel zum Fels, da dein Seil – anders als bei einem „weichen“, dynamisch abgebremsten Sturz – nicht durch die zuletzt eingehängte Zwischensicherung gleitet (kein „Seilschlupf“). Dein Sturz wird allein durch etwas Seildehnung und den Aufprall am Fels aufgefangen. Ziemlich statisch, das Ganze…
Prinzip des dynamischen Sicherns
Völlig statisch ist ein Sturz mit einem Kletterseil allerdings nie, da dessen Elastizität immer einen Teil der Sturzenergie automatisch aufnimmt (Fangstoßdehnung). Dennoch ist das harte „Zumachen“ des Sicherers, sobald der Vorsteiger seinen Abflug andeutet, meist eine völlig kontraproduktive Lösung. Bei einem weiten Sturz ist sie aufgrund der hohen Belastungsspitzen sogar extrem gefährlich.
Es gibt allerdings Ausnahmen: einmal in Bodennähe, wo bei zu weicher Sicherung ein „Grounder“ droht, und einmal in gestuftem oder stark strukturiertem Fels, wo es viele Vorsprünge gibt. Das ist meistens in leichterem und alpinem Gelände der Fall – Gefilde, in denen man am besten niemals stürzt. Dieses Niemals kann man möglich machen, indem man vorher so viel übt, dass man das „leichte Alpingelände“ absolut souverän beherrscht.
Manchmal befindet sich aber auch in bestens gesicherten Sportkletterrouten unter dem Vorsteiger ein Vorsprung oder Sims. Ein eventueller Sturz sollte dann besser nicht so lang geraten, dass er daran aufschlagen könnte. In dem Falle kann ein straff und „statisch“ aufgefangener, harter aber kurzer Sturz das kleinere Übel im Vergleich zum Felskontakt während eines längeren dynamischen Vorbeiflugs sein.
Wie wird die Sturzenergie abgebaut?
Dynamisches Sichern besteht also darin, den Sturz nicht abrupt abzufangen. Einen Teil dieser Aufgabe übernimmt ganz automatisch schon die Seildehnung. Deren Effekt hängt natürlich von der Länge der ausgegebenen Seilstrecke ab: ist der Kletterer beim Sturz schon weit vom Stand weggeklettert und hat viele Zwischensicherungen eingehängt, ist viel Seil ausgegeben und die Dehnung hat einen großen Effekt. Ist der Kletterer noch nah beim Stand, ist die Länge der Seildehnung ebenfalls gering und hat daher wenig Effekt.
Es muss also je nach Situation zusätzlich für eine gewisse „Gleitstrecke“ des Seils gesorgt werden. Diese Gleitstrecke und das mit ihr verbundene sanftere Auffangen der Sturzenergie kommt auf mehrere Arten zustande:
- durch „Schlappseil“ und dessen Straffung während der Sturzbelastung.
- durch die Seilführung (über Kanten, Ecken, Dächer).
- durch eine dem sturzbedingten Seilzug nachgebende Bewegung des Seils durch das Sicherungsgerät („gerätedynamisches Sichern“).
- indem der Sichernde seinen Körper kontrolliert in Richtung des sturzbedingten Seilzugs mitbewegt („körperdynamisches Sichern“).
Körperdynamisch und gerätedynamisch
Gerätedynamisches Sichern
Das gerätedynamische Sichern ist am schwierigsten zu beherrschen und sollte nur zum Einsatz kommen, wenn statt über den Körper über einen Fixpunkt gesichert wird, und/oder wenn der Sichernde wesentlich schwerer ist als der Kletterer und sein Körper durch den Seilzug allein nicht bewegt wird. Die Bremshand wird dabei mit gestrecktem Arm vom Sicherungsgerät weggehalten und beim Sturz zum Gerät hingezogen.
Bei halbautomatischen Sicherungsgeräten funktioniert gerätedynamisches Sichern nicht, da sie schlagartig blockieren. Vorsicht: Bei manuellen Sicherungsgeräten ohne Blockierhilfe besteht immer die Gefahr, dass zu viel/zu schnell Seil durchläuft, zu viel Reibungshitze zwischen Seil und Bremshand entsteht, das Seil reflexhaft losgelassen wird und der Sturz außer Kontrolle gerät. Das gilt insbesondere bei dünnen und glatten Seilen!
Körperdynamisches Sichern
Das Gezogen-werden des Körpers beim körperdynamischen Sichern geschieht normalerweise automatisch und es muss „nur“ der Widerstand gegen den Zugimpuls richtig dosiert werden. Widerstand wird durch Abstützen mit den Beinen gegen Wurzeln oder gegen die Felswand aufgebaut, während das Nachgeben beim Sturzzug durch kleine Trippelschritte oder einen Hopser die Wand hinauf erfolgt.
Stolpert man beim körperdynamischen Sichern oder verliert das Gleichgewicht, besteht die Gefahr, dass die Bremshand das Seil loslässt. Das bedeutet bei manuellen Sicherungsgeräten ohne Bremsautomatik in der Regel den Komplettabsturz des Kletternden. Deshalb muss der Sichernde stets vorausschauend antizipieren und für sicheren Stand und freie Bahn am Sicherungsplatz sorgen! „Freie Bahn“ bedeutet übrigens nicht, dass man mehrere Meter von der Wand weg stehen soll, auch wenn solch bequeme Positionierung oft zu beobachten ist. Man sollte nicht weiter als einen Meter von der Wand weg stehen. Auf den ersten Metern sollte man zudem seitlich zur Falllinie des Kletterers stehen, da ein Bodensturz trotz bester Vorkehrungen (wie z.B. straffem, fast statischem Sichern) nicht immer auszuschließen ist.
Richtig dosiert ist das Ganze, wenn der gestürzte Kletterer weich „landet“, ohne weiter als nötig zu „fliegen“.
„Richtig stürzen“
Auch der Kletterer selbst kann einiges für einen weicheren und risikoärmeren Sturz tun. So gibt es beispielsweise die Möglichkeit, durch richtig dosiertes Abspringen unbeschadet an eventuellen Vorsprüngen vorbeizufliegen. Doch das muss man 1) können und 2) läuft nicht jeder Sturz so kontrolliert ab, als dass man derart eingreifen könnte. Vor allem beim Wegrutschen von Tritten segelt man bisweilen mit wenig Abstand zum Fels abwärts. Doch solche Situationen kann man zum Glück mit einer soliden Fußtechnik sehr unwahrscheinlich machen.
Außerdem kann man mit systematischem Sturztraining einen Großteil der oft unnötigen Sturzangst abbauen und die Reaktionsfähigkeit und Kontrolle stark verbessern. Eine ausführliche Anleitung für solch ein Training gibt es bereits hier im Basislagerblog.
Sichern am Fixpunkt oder sichern „über Körper“?
Die meisten der in den letzten 10-20 Jahren auf den Markt gebrachten Sicherungsgeräte sind auf Körpersicherung ausgelegt. Sie sind überwiegend für den Einsatz in Kletterhallen und Klettergärten konzipiert, wo so gut wie immer die Körpersicherung zum Einsatz kommt. Hier sind Seilverlauf und Handbewegungen anders als bei der Fixpunktsicherung – weshalb die meisten der „neuen“ Sicherungsgeräte für Letztere nicht geeignet sind.
Fixpunktsicherung
Jene Fixpunktsicherung kommt eher für Mehrseillängentouren und alpine Touren im Hochgebirge infrage. Bei ihr befindet sich der Reibungspunkt, der den Vorstiegssturz (plus den nun auch möglichen Nachstiegssturz!) bremst, nicht am Gurt des Sichernden, sondern an Bohrhaken, Wurzeln, Sanduhren und anderen Sicherungspunkten in der Felswand. Und statt der Sicherungsgeräte kommt hier meistens noch der „gute alte“ HMS-Knoten als Bremse zum Einsatz.
Guter Sturzschutz, aber hohe, abrupte Sturzbelastung
Diese Methode bietet einerseits den höchsten Schutz vor Absturz, andererseits besteht die größere Gefahr einer abrupten Sturzbelastung von Seil und Vorsteiger. Die Stärke des oft sehr soliden Fixpunkts kann zur Schwäche werden, wenn er alle Sturzenergie schlagartig auffängt, ohne dabei in irgendeiner Weise „nachzugeben“. Wird hingegen „über Körper“ gesichert, leistet der Körper des Sichernden dieses Nachgeben indem er beim Sturzzug nach vorne bzw. oben gezogen wird.
Körpersicherung
Beim Sichern über Körper sollte allerdings kein zu großer Gewichtsunterschied in der Seilschaft bestehen, vor allem wenn hauptsächlich der Schwerere vorsteigt. Gerade die klassische Pärchenkonstellation („sie“ wiegt etwa 60 kg und „er“ etwa 80 kg) kann problematisch werden, wenn „er“ stürzt und „sie“ kräftig aus dem Stand gerissen wird. Abhilfe schaffen (abgesehen von der Fixpunktsicherung) die in jeder(?) Kletterhalle verfügbaren Gewichtssäcke, welche sich die leichteren Sicherer an den Gurt klinken können.
Eine elegantere Umgehung des Problems bietet ein cleveres Gerät namens Ohm, das in den ersten Haken eingeklinkt wird. Das Ohm ist demnach kein Sicherungsgerät im engeren Sinne, sondern eine Art Expressschlinge mit eingebauter Bremse. Es nimmt im „Fall des Falles“ einen Teil der Sturzenergie des Vorsteigers auf. Der Sichernde kann den Sturz somit trotz seines geringeren Gewichts mit wenig Handkraft auffangen.
Wer öfter mit Partnern aus anderen “Gewichtsklassen” unterwegs ist, sollte sich natürlich näher mit diesem Thema befassen – zum Beispiel mit dem entsprechenden Sicherheitsreport des DAV.
Der Gewichtsunterschied ist auch nur einer von vielen Aspekten, die bei der Entscheidung „Körper- oder Fixpunktsicherung“ abgewogen werden sollten. Auf alle diese Aspekte einzeln einzugehen, erfordert einen eigenen, umfassenden Artikel. Deshalb sei hier nur beispielhaft erwähnt, dass die Position, Größe und unmittelbare Umgebung des Standplatzes ebenso eine Rolle spielt wie die Qualität der Sicherungen oder die Frage nach der Handlungsfähigkeit bei einem eventuell nötigen Rettungsmanöver. Deshalb hier einmal mehr der Verweis auf das Infomaterial des DAV, das eine gute Grundlage für qualifizierte Entscheidungen bietet.
Zwischenfazit
Ausgehend von diesen Grundlagen schauen wir uns im nächsten Artikel die verschiedenen Kletterdisziplinen mit ihren unterschiedlichen Anforderungen an das Sichern an. Daran wird deutlich, welche Sicherungsgeräte am besten für welche Disziplinen geeignet sind.
1 Kommentar zum Artikel
Warum dynamisches Sichern so wichtig ist. Besten Dank für Ihre sehr gute Darstellung von : Statisch und dynamisch sichern. Ich versuche immer wieder den Unterschie des Sicherns in der Haĺle oder auf kombinierten Hochtouren in meinem Umfeld zu vermitteln, aber meistens ohne Erfolg. Statische Sicherung mit entsprechenden Geräten ist alles was es braucht meinen viele. Aber damit umzugehen, steht dann auf einem anderen Blatt. Das Hauptproblem dieser Situation ist die Ausbildung und das Üben mit solchen Geräten (insbesondere die Lawinen verschütteten Suchgeräte) und deren Handhabung müssten besser geschult weden. Ich wünsche Ihnen schöne, unfallfreie Bergunternehmen und grüsse Sie freundlich L. Mathys