Unglaublich, an was für Strukturen der Eiskletterer des 21. Jahrhunderts so herumpickelt. Das sieht nicht nur schwer aus, sondern ist es auch. Nicht nur wegen der erforderlichen Athletik oder des scharfen und spitzen Metalls, sondern vor allem auch wegen des Eises selbst. Diese sich ständig in Form und Struktur wandelnde „Kletterunterlage“ ist ein viel größerer Risikofaktor als der Fels beim „normalen“ Klettern. Da seine Substanz und Struktur stark von der Umgebungstemperatur abhängen, kann es sich fast so schnell verändern wie das Wetter. Bis man die Kompetenz und die Erfahrung entwickelt hat, um sich hier mit kalkulierbarem Risiko zu bewegen, dauert es eine Weile. Folgender Artikel über Eisarten und Eisqualität ist deshalb nur ein erster Einblick, der keinesfalls als alleinige Grundlage genommen werden darf, um an einem Eisfall einzusteigen!
Wasser ist in jeder Form, nicht nur der Gefrorenen, ein verdammt komplexes Ding (und nebenbei gesagt auch ein wirklich faszinierendes, doch das soll hier nicht Thema sein). Die fundierte Beurteilung seiner gefrorenen Form ist deshalb eine ähnlich komplexe Angelegenheit wie die der Schneequalität und des Lawinenrisikos beim Skitourengehen. Beim eigenständigen Eisklettern muss man sogar beides drauf haben, denn die meisten kletterbaren Eisfälle befinden sich unterhalb von verschneiten alpinen Hängen, aus denen sich Lawinen lösen und durch den Eisfall fegen können.
Unfall 2006
Welche Risiken diese Komplexität birgt, wurde spätestens 2006 jedem Eisfreund klar. Damals zeigte sich, dass selbst ein mehrfacher Eiskletter-Weltmeister nicht vor tödlichen Fehleinschätzungen gefeit ist. Harald Berger, bis dato so etwas wie der Superstar des Eiskletterns, wurde in jenem Jahr unter einem Eiskegel begraben, an dem er sich gerade im Aufstieg befand:
„Hari Berger kletterte an einem Eiskegel, der – vermutlich durch einen Pickelschlag ausgelöst – brach. Der 34-Jährige wurde von den Eismassen begraben. Die eilig herbeigerufenen Rettungskräfte brauchten mehrere Stunden, um sich mit Motorsägen und schwerem Gerät bis zu dem Toten vorzuarbeiten.“
Ein Eiskegel ist eine der charakteristischen Wassereisformen und er „wächst“ durch herabtropfendes oder -fließendes Wasser von unten nach oben. Damit wäre auch endlich der Bogen geschlagen zum Hauptteil dieses Artikels: der möglichst geordneten Übersicht über die Eisformen, die Eisarten und deren Einflussfaktoren. Die Einflussfaktoren stehen am Anfang der Entwicklung, deshalb schauen wir sie uns zuerst an:
Einflüsse
Der Österreichische Alpenverein unterscheidet 4 Faktoren bei der Entstehung von Eisfällen:
- Der Wassereintrag bestimmt die Grundmasse des Wassereises und sorgt im Falle von Tauwetter für die sogenannte Hinterspülung, die wiederum auf die Feuchtigkeit, die Härte und die Stabilität einwirkt.
- Die Topografie bestimmt, in welche Himmelsrichtung der Eisfall ausgerichtet ist (Exposition), welche Steilheit er hat und ob er durch Stufen, Vorsprünge, o.ä. gegliedert ist.
- Das Wetter und der Schneeeintrag bestimmen die Gesamtmasse, die Mischung, die Form und Qualität des Eises sowie die tagesaktuellen Verhältnisse.
- Temperatur, Strahlung und Wind wirken auf Feuchtigkeit, Kompaktheit und Duktilität des Eises ein. Duktili-was? Duktilität: die Fähigkeit, sich plastisch zu verformen ohne zu brechen.
Bei diesen Einflussfaktoren ist nicht nur der Ist-Zustand zu betrachten, sondern auch der zeitliche Verlauf (dazu mehr im letzten Abschnitt). Besonders wichtig ist natürlich die Temperaturentwicklung. Sie und die anderen Faktoren beeinflussen nicht nur den Zustand des Eisfalls, sondern auch den der darüber liegenden Hänge und des umgebenden Felsgeländes. Das bedeutet, dass neben der bereits erwähnten Schneequalität samt Lawinengefahr auch der Steinschlag als Risikofaktor nicht ausgeblendet werden darf.
Eisarten
Die eben genannten Faktoren beeinflussen nicht nur Eigenschaften wie Dichte, Härte und Duktilität, sondern auch, ob das Eis Röhren bildet, Lufteinschlüsse enthält, kompakt-feucht oder fragil-trocken ist. Diese Merkmale werden für die Unterscheidung der Eisarten ebenfalls verwendet. Dabei werden die Begriffe „Eisarten“ und „Eisformen“ oft synonym verwendet und vermischt abgehandelt. Ich halte sie nicht unbedingt für synonym und versuche deshalb, sie noch etwas übersichtlicher „aufzudröseln“. Die „Eisart“ beschreibt dabei die „inneren Werte“, während die „Eisform“ die Oberflächen beschreibt.
Zunächst werden in der gröbsten Klassifizierung die Eisarten Wasserfalleis, Gletschereis und Schwarzes (Alt)Eis unterschieden. Da hier eher auf das Klettern an Eisfällen und weniger auf das Klettern in Gletscherbrüchen oder Colouirs abgezielt werden soll, beschränke ich mich auf das Wasserfalleis, welches per Definitionem aus gefrierenden Wasserläufen entsteht. Für dessen Feingliederung gibt es mehrere Vorschläge verschiedener Autoren.
Gliederung von Eisarten
Die oben verlinkte Übersicht „Eis- Mixedklettern Basic“ des Österreichischen Alpenvereins bietet auch hier eine gute Orientierung:
- Weiches Eis ist angenehm zu beklettern, erlaubt aber keine wirklich zuverlässigen Sicherungen. Oft handelt es sich hier um kompaktes Eis, das von Wasser überflossen und oberflächlich aufgeweicht ist. Sein Aussehen ist meist milchig-weiß.
- Weißes Eis bildet sich durch Temperaturschwankungen aus kompaktem Eis. Die dabei zunehmenden Lufteinschlüsse machen das Eis milchig weiß. Das Beklettern ist etwas schwieriger als bei Kompakteis. Weiße Einschlüsse im soliden blauen Eis bestehen meist aus Schnee, der nach Neuschneefällen vom nachwachsenden Eis überdeckt wurde. Sie können schneebrettartig ausbrechen und sind entsprechend gefährlich, wenn die Eisschicht darüber noch nicht dick genug ist.
- Glasiges Eis ist trocken und spröde und entsteht bei sehr niedrigen Temperaturen. Die Oberfläche ist geschlossen, durchsichtig, und, im Unterschied zum bläulichen Kompakteis, farblos. Das Beklettern ist i.d.R. anstrengend und technisch anspruchsvoll.
- Eisglassuren überziehen die von Wasser überflossenen Felsstrukturen als relativ dünne Eisschichten. Je nach Temperatur sind diese mehr oder weniger gut festgefroren.
Man könnte bzw. sollte hier noch das kompakte Eis ergänzen: es ist langsam bei stabilen, nicht zu kalten Temperaturen gewachsen. Es schimmert bläulich und hat die ideale Konsistenz zum Klettern und Sichern. Die Pickelhaue dringt beim Schlag mit angenehmem Widerstand und einem satten, schmatzenden Geräusch ein.
Eisformen
Während man die Art des Eises manchmal erst mit dem ersten Pickelschlag erkennt, ist die Form oft schon von weitem ersichtlich:
- Zapfen: Wasser tropft von oben herab und bildet wenige oder viele, kleine oder große Zapfen, die, je nach Bedingungen, mehr oder weniger fest nach oben verwachsen sind. Wenn Tropfwasserstrukturen von unten nach oben wachsen, entstehen Eiskegel.
- Säulen: Große Zapfenstruktur, die aus zunächst frei hängenden Zapfen entsteht und mit dem Boden verwächst. Sie ist somit oben und unten festgefroren.
- Röhren: Wachsen die Eiszapfen nach unten zusammen, bilden sich viele kleine Säulen aus. Diese Strukturen formieren sich zu Röhren, die oft an Orgelpfeifen erinnern.
- “Blumenkohl“: das Eis bildet viele kleine Auswölbungen, die als Ganzes betrachtet an ein gesundes weißes Gemüse erinnern. Sie unachtsam zu beklettern kann allerdings sehr ungesund sein: sie enthalten viele Lufteinschlüsse und sind nicht unbedingt für besondere Stabilität bekannt. Der Blumenkohl bildet oft die fragile Basis von frei stehenden Eissäulen.
Eisqualität beurteilen
Die Kenntnisse der bisher genannten Eisarten und -formen sind wichtige Bausteine für die Beurteilung des Kletterrisikos. Für ein möglichst vollständiges Bild und eine abschließende Beurteilung fehlt noch die Einschätzung der Form und Festigkeit des Eisfalls als Ganzes. Die einfachste Stütze, auf die man hierfür zurückgreifen kann, ist die Unterteilung des österreichischen Bergführerverbands nach drei Eisqualitäten:
I: gut, kompaktes Wassereis, keine bzw. kaum Lufteinschlüsse, solide Basis
II: mittel, Wassereis mit max. 20 % Lufteinschlüssen, keine solide Basis
III: schlecht, Wassereis mit bis zu 50 % Lufteinschlüsse, sehr schlechte Basis
Etwas differenzierter und „ganzheitlicher“ ist die fünfstufige Typisierung des Innsbrucker Bergführers Paul Mair, die 2003 im Fachmagazin „Berg und Steigen“ vorgestellt wurde. Auch deren Grundlage ist denkbar einfach: je dünner ein Eisfall ist und je weniger Felskontakt er hat, desto leichter bricht er ab oder fällt zusammen – und desto riskanter ist folglich seine Begehung.
Mair unterscheidet die Formklassen F1 bis F5 (Abbildungen sind im verlinkten PDF zu sehen):
F1: Ein relativ flacher, vollständig aufliegender Eisfall. Die Last (seines Gewichts) wird auf die unterstützende Wand übertragen. Selbst bei einem Bruch im Eis hält das Gebilde noch in sich zusammen, anstatt gleich einzustürzen.
F2: Ein steil anliegender Eisfall. Die Last wird teils auf die Felswand, teils auf die Basis übertragen. Auch hier führt ein Bruch im Eis eher selten zum Einsturz.
F3: Ein teilweise freistehender Eisfall. Die Last wird größtenteils auf die Basis übertragen. Ab dieser Formklasse kann nach einem Temperaturanstieg schnell der gesamte Eisfall brisant werden.
F4: Eine vollständig freistehende Säule. Diese Gebilde sind so fragil, dass sie unter Umständen sogar auf Windstöße reagieren! Das Risiko eines plötzlichen Einsturzes ist hier niemals völlig auszuschließen.
F5: Ein frei hängender Zapfen. Sämtliche Zugkräfte wirken voll auf die obere Kontaktfläche ein. Es kommt zu sehr schnellen Reaktionen auf Änderungen bei Temperatur und Einstrahlung. Das beklettern ist jederzeit riskant. Selbst bei besten Bedingungen sollten sich hier nur sehr erfahrene Eiskletterer heranwagen.
ISM
Da das Interesse am Eisklettern ebenso wie das Leistungsniveau nach wie vor steigt, geht die Suche nach genaueren Eisfall-Beurteilungsmöglichkeiten weiter. So wies uns ein Kollege nach Erscheinen dieses Artikels darauf hin, dass es seit Herbst 2017 noch ein weiteres, wiederum differenzierteres Beurteilungssystem gibt. Auch dieses wurde im Berg & Steigen Magazin vorgestellt und hört auf den Namen Ice Selection Method (ISM). Entworfen hat es der Wahl-Tiroler Bergführer und Extremkletterer Albert Leichtfried. Er bezieht neben den natürlichen Einflüssen auf die Eisqualität auch den Faktor Mensch ein, da dieser mit seiner Routenwahl und seiner Klettertechnik ebenfalls die Sicherheit und Begehbarkeit eines Eisfalls beeinflusst. Zudem weist Leichtfried mit der nächtlichen Abstrahlung und dem Wind auf zwei natürliche Faktoren hin, die sonst weniger beachtet werden. Sie erzeugen beide vor allem Austrocknung, Temperaturgefälle und Spannungen im Eis.
Ampelmethode nach Leichtfried
Aus diesen Überlegungen heraus hat Leichtfried seine mehrstufige „Ampelmethode“ entwickelt, die wohl nicht zufällig ein wenig an Werner Munters Reduktionsmethode beim Skibergsteigen erinnert. Dabei werden nacheinander die Faktoren Temperatur, Sonneneinstrahlung und Eisformation betrachtet und mit „grün“, „orange“ und „rot“ bewertet. Für eine Begehung der Route darf nur maximal ein Parameter „orange“ sein, ansonsten wird verzichtet.
Die ISM hat damit eine klar und einfach verfolgbare Systematik, kommt aber auch nicht ohne qualitative Kriterien wie den optischen Eindruck beim Faktor „Eisformation“ aus. Im Gegenteil, dieses nicht quantifizierte Kriterium hat sogar sehr viel Gewicht. Es bleibt also nach wie vor subjektiver Spielraum, der Erfahrung und geschulte Wahrnehmung erfordert. Narrensicherheit in der Beurteilung der Eisqualität gibt es auch mit der ISM nicht (was sicher auch gar nicht die Absicht des Erfinders war) und wird es vermutlich so schnell auch mit der nächst feineren Methoden nicht geben.
Zusammenfassung: Schon bei Säulen der Kategorie F3 ist große Skepsis angebracht. Wirklich solide sind sie nur, wenn sie im Verhältnis zu ihrer Länge sehr dick, fest mit dem Boden verwachsen sowie frei von „Blumenkohl“ und Rissen sind. Generell hängt die Formklasse des Eisfalls wesentlich von der Form der „Geländeunterlage“ ab. Die dichtesten und stabilsten Eisfälle sind meist in konkave Geländestrukturen wie Rinnen und Steilstufen „eingebettet“. Dort herrschen auch die besten Bedingungen für die Entstehung des bläulich schimmernden Kompakteises.
Der Faktor Zeit
Anders als der Fels muss der sich ständig wandelnde Eisfall immer wieder neu beurteilt werden. Das kann anspruchsvoll sein, da man die Eistemperaturen im Zeitverlauf berücksichtigen muss, wofür wiederum Kenntnisse über das Verhalten von Wassereis unter Einfluss verschiedener Temperaturen erforderlich sind. Einen groben Anhaltspunkt liefert das Verlaufsdiagramm auf Seite 11 der bereits erwähnten Broschüre des ÖAV. Es zeigt den starken Zusammenhang zwischen Temperaturen und Klettereignung eines Eisfalls über einen Zeitraum von etwa vier Wochen. Man sieht, dass die Stabilität des Eisfalls vor allem bei schnell steigenden Temperaturen leidet. Besonders die gelegentlichen warmen Föhnwinde setzen dem Eis im Alpenraum sehr schnell zu.
Aber auch stark fallende und sehr niedrige Temperaturen um -15 bis -20°C sind nicht unbedingt ein Grund zum Jubeln, denn das Eis wird beim Abkühlen nicht nur dichter, sondern auch spröder. Sprödes Eis ist brüchig und dadurch ein zweifelhaftes Klettervergnügen mit vielen herumfliegenden Splittern. Auch das Absichern ist erschwert, da Eisschrauben das spröde Eis zersplittern und schlecht „greifen“. Die besten Verhältnisse, im Diagramm durch Smileys markiert, herrschen bei länger anhaltenden Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt, idealerweise mit leichtem Antauen tagsüber. Hier kann sich das kompakte und elastische Ideal-Klettereis bilden.
Lufttemperatur
Last but not least ist auch zu beachten, dass nur die Lufttemperatur direkt am Eisfall zählt und diese eine ganz andere sein kann als die im Talort oder am Parkplatz. Hier spielen Hangexposition und Sonneneinstrahlung oder deren Fehlen eine wichtige Rolle. Direkte Sonneneinstrahlung sollte beim Eisklettern in den Alpen übrigens gemieden werden, da hier die Lufttemperatur auch im Winter und in der Höhe schnell über den Gefrierpunkt steigen kann.
Wer den Temperatur- und Zeitfaktor noch besser verstehen will, sollte einen Blick auf diese Studie vom Institut für Glaziologie der Universität Grenoble werfen, in der die Stabilität von Eisfällen wissenschaftlich untersucht wurde.
Fazit
Während Anfängerfehler, fehlendes Wissen und übereilte Schritte beim Sportklettern oder Bergsteigen durchaus mal durch rohe Kraft, puren Willen oder einfach Glück „wettgemacht“ werden können, ist dies beim Eisfallklettern so gut wie ausgeschlossen. Hier sollte man keine eigenständigen Unternehmungen starten, bevor man nicht zu 100% alle praktischen und theoretischen Aspekte des Sports verinnerlicht hat.