Der Verstand ist wie die Sittlichkeit, ein guter Diener, aber ein schlechter Herr.
Johann Wolfgang von Goethe
Der Räucherstäbchengeruch wird von hauchzarter indischer Flötenmusik begleitet. Der Keramik-Buddha lächelt verständnisvoll vom Altar. Die Meditierenden verharren mit verknoteten Beinen im Lotossitz. Die Leiterin der Gruppe wippt ihren Oberkörper gelegentlich hin und her und murmelt Gebetsformeln auf Sanskrit. Nach drei Stunden beginnt die Gruppe ein immer lauter werdendes “OOOOMMMMM” anzustimmen und gerät in Ekstase. Schließlich fallen sich alle weinend in die Arme.
Falls das jetzt ungefähr Deine Vorstellung von Meditation war, kann Dir dieser Artikel viel Neues bieten. Die erste Neuigkeit wäre: Meditation ist weder etwas Abgehobenes noch etwas Exotisches, sondern im Gegenteil ein “bodenständigerer” Zustand als unser gewohntes Alltags-Sein. Denn Letzteres wird bestimmt von einem Chaos aus teilweise ziemlich abgehobenen Gedanken und Gefühlen.
Was ist Meditation?
Was Meditation wirklich ist, wird selten näher erklärt, da sie nicht leicht zu fassen und einzuordnen ist. Sie ist ein Seinszustand, bei dem man sich aus dem Alltags-Ich “zurückzieht” und es “von außen” betrachtet. Und dabei bisweilen feststellt, dass wir gar nicht identisch mit diesem Alltags-Ich sind. Und dass dieses Ich wiederum fast nur aus dem kognitiven Verstand mit seinen gedanklichen Bildern und Konzepten besteht. Der Verstand ist hier so dominant geworden, dass wir ihn mit unserem Ich gleichsetzen. Er hat sich – um Bezug auf das Eingangszitat von Goethe zu nehmen – zum Herrn aufgeschwungen, obwohl er “nur” als ein geniales Diener-Tool unter Mehreren im Werkzeugkasten der Wahrnehmungsmöglichkeiten vorgesehen war.
Die Verwechslung des Verstandes mit dem Ich hat sich spätestens mit dem descart’schen Paradigma “Ich denke also bin ich” in unsere Kultur eingebrannt. Meditation kann inneren Abstand schaffen und dadurch diese Verwechslung sichtbar machen. Falls das kompliziert klingt: ist es nicht, wie wir gleich am Praxisbeispiel konkret erfahrbar machen.
Das wachsende Interesse der “westlichen Welt” an der einst fremden Meditation liegt jedenfalls auch an einem Wandel dieser “descart’schen” Kultur und Sichtweise. Doch die Hauptrolle spielen die vielen Vorteile, die die Meditation im Leben verschaffen kann. Ein Vorteil kann das Geld sein, das sie abwirft, wenn man sie geschickt als Lifestyle- und Wellnessprodukt vermarktet. Größeres Wohlbefinden und bessere Gesundheit sind denn auch tatsächlich weitere handfeste Vorteile. Nicht umsonst wird Meditation inzwischen auch von den Krankenkassen empfohlen. Selbst in unserer kleinen alpinen Parallelwelt hält sie Einzug: So empfiehlt der Alpenverein auf seiner Homepage eine “Bergmeditation”, mit der Du “die Kraft der Berge zuhause spüren” kannst. Berge sind allgemein ein beliebtes Motiv bei Visualisierungen in der Meditation.
Nur die Praxis zählt: einfache 5-Minuten-Meditation
Auch wir machen hier eine Praxisprobe (allerdings ohne Visualisierungen und andere Techniken), weil die Meditation eine Erfahrungsangelegenheit ist, die sich mit dem Intellekt allein nicht begreifen lässt.
Ich schlage dafür folgende 5-Minuten-Minimalismus-Meditation vor, die von den zahllosen Anleitungen im Netz etwas abweicht, bei denen oft spezielle Techniken und Schnickschnack aller Art eingebaut sind. Wir peilen dabei “nur” die bewusstere Wahrnehmung des Moments an. Dass allein diese Wachheit schon entspannter und angenehmer als unser gewohnter “Traumzustand” ist, ist eigentlich nur ein Nebenprodukt des ursprünglichen Meditationsziels (das in alten Zeiten nichts geringeres als Erleuchtung/Erwachen war).
5 einfache Schritte
Folgende kurze und einfache Basismeditation soll zeigen, dass der “Normalmodus” ziemlich anstrengend ist und wir in ihm nicht wirklich wach sind. Lies Dir folgende Anleitung zunächst durch und befolge sie dann in der 5-Minuten-Meditation:
1. Setze Dich so hin, dass Du 5 Minuten entspannt und ungestört verbringen kannst. Du kannst Dich anlehnen, musst aber den Oberkörper soweit gerade halten, dass Dein Atem ungehindert durch Brust und Bauch zirkulieren kann.
2. Stelle Dir einen Wecker oder Timer auf 5 Minuten und schließe dann die Augen wie bei einem Nickerchen. Tue von nun an nichts weiter, als ganz normal zu atmen. Du beobachtest aus Deinem Inneren heraus Dein Atmen, ohne irgendetwas damit zu machen. Du atmest nicht tiefer oder schneller, sondern einfach nur wie immer.
3. Du nimmst die ganzen 5 Minuten über wahr, wie Du atmest. Genauer gesagt atmest Du nur, das Wahrnehmen geschieht von allein. Du nimmst auch sonst alles, was geschieht oder auch nicht geschieht, von ganz allein wahr. Die Fliege, die Dich nervt, der Bauch, der grummelt, ein Knall, der Dich erschreckt, eine juckende Stelle, der Gedanke an einen vergessenen Termin: all das lässt Du einfach vorüberziehen. Du bleibst bei den reinen Beobachtungen, ohne auf sie zu reagieren und ohne einzugreifen. Du kannst auf diese Weise auch eine juckende Stelle kratzen und Dein Kratzen wahrnehmen.
4. Wenn Du doch einmal von Gedanken und Gefühlen “fortgerissen” wirst, kehrst Du, sobald Du es bemerkt hast, wieder zurück zu Atem und Wahrnehmung. Du kannst dabei auch gern entspannen, denn Du hast ja nichts aktiv zu tun. Lass alles, was in Dir und außerhalb von Dir geschieht, wie einen Kinofilm ablaufen, den Du bequem vom Sessel aus siehst und an dem Du in keiner Weise beteiligt bist. Auch Deine Zweifel, ob Du “schon meditierst” oder nur wie ein Idiot herumsitzt und Deine Zeit verschwendest, lässt Du so vorbeiziehen.
5. Irgendwann, nach einer Ewigkeit oder viel zu schnell, sind die 5 Minuten vorbei. Du öffnest die Augen und machst noch einige normale, aber bewusste Atemzüge.
Welchen Nutzen hat Meditation?
Nach dieser Übung kannst Du vielleicht schon Meditations-Vorteile wie mehr Präsenz und weniger vergeudete Energie erahnen. Wenn Du öfter meditierst, bemerkst Du irgendwann sofort, wenn Gedanken Dich in einen Zustand des Tagträumens ziehen, in dem Du nur noch “auf Autopilot läufst”. Du stellst dann auch fest, dass diese Tagträume meist um vergangene Geschichten oder noch nicht eingetroffene Zukunftsszenarien kreisen, also nichts mit dem tatsächlichen jetzigen Moment zu tun haben. Und dass als Reaktion auf die Gedanken auch noch Emotionen oben drauf kommen (Stolz, Freude, Wut, Trauer, …), die ebenfalls nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben.
Die Jugendsprache hat mit “Filme schieben” und “Kopfkino” ziemlich passende Formulierungen für den Tagtraumzustand gefunden. Wer “am Filme schieben”, also in den inneren Bildern und Gedanken verloren ist, kann nur mit automatischen Reflexen und Programmen (dem Autopiloten) auf die Anforderungen des Moments reagieren. Diese Reaktionen wiederum sind meist nicht wirklich adäquat und situationsgerecht, sondern schaffen eher Missverständnisse und Fehlleistungen. Die wiederum der Stoff für künftige Tagträume sind…
Präsenz im Hier und Jetzt
Wer hingegen im Gewahrsein des Jetzt, also in der Meditation ist, bemerkt das “Filme schieben” sofort, kann es unterbrechen und wird nicht davon fortgetragen. Mit etwas Meditationsübung werden wir auch bemerken, wie viel Kraft und Energie das abwesende “Leben in den Gedanken” mitsamt seiner emotionalen Achterbahn kostet. Und wie viel wir dementsprechend mit Präsenz im Jetzt gewinnen können.
Das letztendliche Ziel von Meditation ist spiritueller Natur. Sie dient salopp gesagt der Erleuchtung bzw. ist Ausdruck von Erleuchtung. In prähistorischen Zeiten soll Meditation der normale Seinszustand des Menschen gewesen sein. So wie wir heute “im Westen” die Meditation nutzen, nämlich als Wellnesstool, um uns “besser zu fühlen”, ist es aus spiritueller, “östlicher” Sicht eigentlich ein Missbrauch. Aber wir können wohl auch kaum anders, denn wir sind gänzlich von der kurzlebigen, durch Raum, Zeit und Materie begrenzten Lebenswelt vereinnahmt und können mit “spirituellen Dimensionen” wenig anfangen. Selbst die vielen Besucher der boomenden spirituellen Seminare streben nicht unbedingt nach Erleuchtung oder Erlösung, sondern nach einem schöneren Dasein in “dieser Welt”. Das ist aber auch legitim, denn hier muss, wie schon der Alte Fritz sagte, “jeder nach seiner Fasson selig werden”.
Meditation und Bergsport
Bis hierhin ist Dir vielleicht schon klar geworden, wie eng sich Meditation mit den Bergen und dem Leben der Bergfreunde verbinden lässt. So kann beispielsweise jede Wanderung zum meditieren genutzt werden oder gleich ganz zur Meditation werden. In den Bergen haben wir gute Bedingungen, um den zweckfreien Hier-und-Jetzt-Zustand namens Meditation zu erleben, da sich der alleinige Fokus auf den Moment hier manchmal automatisch einstellt. Das Ambiente der Bergnatur macht es dem Kopf leichter, zur Ruhe zu gelangen. Dies wiederum mindert Stress, Ärger und Ängste merklich. Der meiste Stress resultiert auch nicht aus tatsächlichen Ereignissen, sondern aus stressigen Gedanken über vergangene oder künftig eventuell drohende Ereignisse. Meditation hilft, ihnen nicht zu viel Gewicht und Realitätsgehalt zuzumessen.
Gut zu wissen ist auch, dass die Gedankenerzeugungsmaschine zwischen unseren Ohren der größte Energieverbraucher im Körper ist. Da bleibt viel Energie, die sich besser in den Beinen und Armen für die Fortbewegung gebrauchen lässt.
Der meditative Zustand ist allerdings vorbei, sobald wir ihn gedanklich reflektieren. Wir sind dann wieder im alltäglichen Bewertungs- und Analysemodus: “Ah, das ist jetzt Meditation, toll, das will ich beibehalten. Dafür muss ich jetzt wohl die Gedanken anhalten oder so.”
Es geht nicht darum, keine Gedanken mehr zu haben, oder diese wegzudrücken. Solche Bestrebungen erzeugen nur neuen Stress. Es geht darum, die Gedanken zu beobachten, ohne sie festzuhalten und zu unserer eigenen Geschichte und Persönlichkeit zu machen. Man kann also nicht “versuchen zu meditieren”, sondern man kann die Meditation nur zulassen, in sich hineinlassen. Sie ist folglich keine aktive Tätigkeit und kein vorübergehender Zustand, sondern die Befreiung von Tätigkeiten und Zuständen.
Stolpermeditation
Wenn Du Diesen Artikel “richtig verstanden” hast, nimmst Du bei Deiner nächsten Tour Deinen Stolper-Fehltritt samt glühendem Zehenschmerz und wildem Gefluche einfach nur wahr, anstatt Dich in die aufkommenden Gedanken und Geschichten zu verstricken (“Warum immer ich? Dem Wolfi und der Vroni würde das nie passieren! Die haben immer so ein Glück!”; “Diese Blödheiten darf ich mir nicht länger erlauben, ich verdammter Idiot. Letztes Jahr hats fast den Führerschein gekostet, als ich…”; usw.). Stattdessen beobachtest Du sie nur, wodurch sie ganz nebenbei und unbeabsichtigt ihre negative Suggestivkraft verlieren. Wodurch Du wiederum mehr Energie für eine situationsgerechte Reaktion hast (z. B. den Zeh zu begutachten und zufrieden festzustellen, dass nichts kaputt ist). Du bleibst im Inneren entspannt und unbeteiligt. Du tust, ohne zu tun – Wu Wei.