„Wie kann man sich da überhaupt festhalten?“ Das ist eine Frage, die mir manchmal gestellt wird und die ich mir selbst noch viel öfters stelle, wenn ich vor Routen stehe, die deutlich über meinem Limit liegen. Die Antwort dazu kenne ich mittlerweile: Es ist unter anderem eine gute Portion Fingerkraft, gepaart mit einer richtig guten Klettertechnik.
Ohne Zweifel zählt die Fingerkraft zu den dominantesten Faktoren, um möglichst schwere Touren klettern zu können. Das zeigt sich auch bei einem Blick auf die Kletter-Elite. So unterschiedlich die körperliche Erscheinung dieser „Übermenschen” auch ist, eines haben sie alle gemeinsam: Sie können sich verdammt gut an ziemlich kleinen Griffen festhalten und haben darin sehr viel Erfahrung. Aber für uns „Normalsterbliche” gibt es Hoffnung. Auch wenn die Kraft und Verletzungsanfälligkeit der Finger eine große genetische Komponente beinhaltet, kann sie mit ein wenig Geduld und Zeit sehr gut trainiert werden.
Vielleicht sollte ich noch gar nicht mit einem Zusatztraining beginnen?
Zu Beginn ein paar Worte an die Anfänger unseres schönen Sports. Euch möchte ich sagen, dass Klettern mehr als nur pure Kraft ist. Alle Aspekte des Kletterns können in den ersten Jahren über reines Klettern sehr gut trainiert werden. Ein spezifisches Fingertraining ist für Anfänger mit einem hohen Verletzungsrisiko verbunden. Konzentriert euch deshalb lieber erstmal auf Technik, Taktik, Bewegungsgefühl, mentale Fähigkeiten usw.
Ein solider Kraftaufbau benötigt viel Zeit
Auch wenn die Hand oberflächlich gesehen am Handgelenk endet, zieht sich ihr extrem komplexes System über viele Gelenke, bis hin zur Schulter. Wichtig zu wissen ist, dass der Bewegungsapparat der Hand aus sehr vielen und komplex miteinander verbundenen Knochen, Sehnen, Bändern und Muskeln besteht.
Letztere geben uns die Kraft, sich an den kleinen Griffen festzuhalten. Sie sind sehr gut trainierbar und machen schnell Fortschritte. Bei den Sehnen und Bändern unserer Hand und des Unterarms sieht das ein bisschen anders aus. Sie brauchen größere Trainingsreize und auch wesentlich länger, um die gleiche Belastbarkeit zu entwickeln. Hier hilft auch kein Tape, sondern einfach nur Zeit!
Wenn wir an einem zu frühen Zeitpunkt unserer Kletterkarriere mit dem Fingertraining beginnen, entwickelt sich die Leistungsfähigkeit der Muskulatur zu schnell, und das kann zu Kletterverletzungen führen. Der Verletzungsprozess sieht dann wie folgt aus: Die Hand- und Armmuskulatur ist trainiert und leistungsfähig genug, um kleine Griffe zu halten; Bänder und Sehnen in den Fingern sind jedoch noch nicht ausreichend belastbar. Doch mit der neuen Kraft geht man nun in das Langzeitprojekt, um es endlich ans Top zu schaffen. Und plötzlich rutscht beim Schlüsselzug der Fuß weg und man fängt den Schwung mit dem Oberkörper auf. Entweder macht es hier gleich „Pflup“ und man hat an einem der Ringbänder ein akutes Trauma, oder man wiederholt dieses Szenario und erzwingt eine chronische Überlastung. Beide Fälle zählen zu typischen Verletzungsmustern bei Kletterern und erhöhen das Risiko, sich zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu verletzen.
Es zeigt sich, dass man das Thema mit der Fingerkraft eher konservativ angehen sollte. Mach dir bewusst, dass dich eine Verletzung weit zurückwirft; der Heilungsprozess der Finger kann gerne mal sechs Monate oder länger benötigen.
Gründe, um die Fingerkraft zu stärken
Es ergibt Sinn, dass starke Finger kleinere Griffe festhalten können. Doch Fingerkraft bringt noch einen weiteren Vorteil. Du kannst dich länger festhalten. Wieso? Der Grund ist die Maximalkraft. Sie ist die maximale Spannung, die du in einem Muskel durch reine willentliche Anstrengung erzeugen kannst. Mit einem guten Training kannst du deine willkürliche Leistung an das Limit der Kraftreserven für Notsituationen annähern. Das heißt, die Muskelzellen werden länger versorgt und du bleibst länger an der Wand. Denn kurz und knapp: je stärker deine Finger sind, umso kleiner können Griffe sein bevor sich die Leistungsfähigkeit der Muskulatur reduziert.
Richtig ins Training starten
Damit ein Fingertraining auch seine volle Wirkung erzielen kann, musst du gut vorbereitet sein. Dazu gehört unter anderem eine ausreichende Pausenzeit zwischen den Fingertrainingseinheiten. Es ist zu empfehlen maximal zweimal pro Woche ein Fingertraining durchzuführen. So kannst du zwischen den Trainingseinheiten 48 Stunden pausieren und hast auch noch Zeit zum Klettern/Bouldern.
An den Trainingstagen ist es besonders wichtig, sich gründlich aufzuwärmen. Am besten beginnst du mit Übungen wie Seilspringen oder Jumping-Jacks, um den gesamten Kreislauf in Schwung zu bringen. Anschließend widmest du dich den Fingern mit wiederholtem Hängen an großen Griffen und ein wenig Stretching (<10sec Dehnungszeit).
Für das richtige Hängen, oder Training am Fingerboard belastest du nicht nur deine Finger, sondern auch die Schultern. Deshalb ist es wichtig mit der richtigen Form an den Leisten zu hängen. Diese Kriterien solltest du deshalb beachten:
- Halte die Leisten zum Training alleine mit der offenen Hand, oder mit nur leicht aufgestellten Fingern und nicht mit dem Daumen unterstützt.
- Damit du deine Schulter nicht unnötig belastest, ist es wichtig die Schultermuskulatur anzuspannen. Dies gilt besonders bei einem Training mit Zusatzgewicht!
Durch das wiederholte Hängen und Stretching reduzierst du die Verletzungsgefahr und erhöhst deine Leistungsfähigkeit für das folgende Training.
Es empfiehlt sich, die folgenden Trainingsprotokolle für je vier Wochen durchzuführen und anschließend mindestens eine Woche zu pausieren. Danach kannst du entweder die Intensität im selben Protokoll erhöhen oder du führst eins der anderen beiden Programme durch. Natürlich kannst du dich auch erst einmal an die neue Kraft gewöhnen, und anschließend einige Wochen ohne Fingertraining vergehen lassen. Wir sind keine Profis und müssen uns nicht an ideale Trainingspläne halten.
Maximale Fingerkraft trainieren – man muss sich nicht immer platt machen
Die folgenden Trainingsprotokolle unterscheiden sich in Dauer, Intensität (Griffgröße/Zusatzgewicht) und Pausenzeit. Jede Variation dieser Faktoren hat einen unterschiedlichen Trainingseffekt auf Fingermuskulatur, Sehnen und Bänder.
Um die Maximalkraft zu trainieren, muss der Trainingsreiz eine sehr hohe Intensität aufweisen, sodass du die Übung nur kurze Zeit ausführen kannst. Anschließend ist eine längere Pause nötig, um im nächsten Durchgang wieder volle Leistung bringen zu können. Nach solch einem Training wirst du dich unerwartet fit fühlen. Lass dich aber nicht täuschen, dein Körper hat viel geleistet und benötigt eine Pause.
Mit diesen Trainings wird vor allem das Nervensystem trainiert. Der Effekt ist anschließend, dass der Körper die Ansteuerung der Muskulatur verbessert. Das kann bedeuten, dass mehr Nervenimpulse an die Muskulatur geschickt werden, mehr Muskelzellen gleichzeitig aktiviert werden und leistungsfähigere Muskelfasertypen früher aktiviert werden. Diese neuromuskuläre Anpassung ist ein qualitatives Merkmal der Leistungsfähigkeit der Muskulatur und in diesem Fall deiner Griffkraft.
Eva Lopez’ minimale Leisten Training
Eva Lopez untersucht Trainingsmethoden für das Klettern. Basierend auf ihren Studien hat sie folgendes Trainingsprotokoll für die Maximalkraft der Finger empfohlen. Hierfür benötigst du ein großes Angebot an Trainingsleisten. Sie verwendet zum Beispiel das Progression Trainingsboard. Etwas weniger Auswahl ist allerdings auch nicht schlimm. Unter diesen Griffen suchst du einen aus, an dem du bei maximaler Anstrengung gerade so 15 Sekunden lang hängen kannst. Dies ist dein Trainingsgriff. Er ist dein Freund für die nächsten 4-Wochen.
- 12 Sekunden Hängen
- 3 Minuten Pause
- 4-mal Wiederholen
Punkte 1 bis 3 ergeben einen Satz. Nach 5 Minuten Pause kannst du einen weiteren Satz wiederholen. Anfänger sollten es bei 2 Sätzen belassen. Fortgeschrittene können bis zu 5 Sätze an verschiedenen Grifftypen ausführen.
Fortgeschrittene Kletterer (UIAA 8 bis 9) und Boulderer (Fb 7a) können dieses Protokoll als Einstieg in das Fingerboardtraining nutzen und deutliche Fortschritte erzielen.
Maximalkrafttraining mit Zusatzgewicht (nach Eric Hörst)
Nachdem du das erste Protokoll fleißig über mehrere Trainingszyklen trainiert hast, werden die Leisten, an denen du hängen kannst, sehr klein und irgendwann auch sehr schmerzhaft. Spätestens dann bist du an dem Punkt angekommen, an dem es Zeit ist, wieder größere Leisten zu wählen und die Trainingsintensität durch zusätzliches Gewicht (10 bis 50 kg extra) zu erhöhen. Denke beim Auflegen des Zusatzgewichts daran, dass es um ein vernünftiges Training gehen soll und nicht darum, andere zu beeindrucken. Wähle anfangs eine Trainingsleiste, an der du mit dem ersten Fingerglied hängen kannst. Füge so viel Gewicht hinzu, dass du sie für 13 Sekunden gerade so halten kannst.
Wie du das richtige Gewicht herausfindest, zeige ich dir demnächst in einem Video auf unserem Youtube-Channel. An dieser Leiste trainierst du mit dem Gewicht wie folgt:
- 10 Sekunden Hängen
- 3 Minuten Pause
- 4-mal Wiederholen
Danach 5 Minuten Pause und einen weiteren Satz durchführen.
Das Zusatzgewicht hältst du für mindestens 4 Wochen gleich, danach kannst du kontrollieren, ob eine Anpassung notwendig ist.
Kraftausdauer für Fingerkraft – Wann “sich platt machen“ funktioniert
Beim Klettern will man nicht nur kleinste Griffe festhalten, sondern auch ans Top der Route kommen. Dazu ist es nötig, wiederholt Griffe zu halten und wieder los zu lassen. Je länger die Route, umso öfter müssen wir weiter greifen. Man spürt, dass die Unterarme immer fester werden und zu brennen beginnen. Das folgende Protokoll hilft dir dabei, diese Phasen besser durchzustehen.
Intermittierendes Hängen (Repeaters)
Das Beastmaker (Ned Feehally) hat dieses Trainingsprotokoll wohl berühmt gemacht, oder zumindest sehe ich viele Trainierende nach den Programmen/Intervallen der Beastmaker-App trainieren. Zudem erzählen viele von den guten Erfolgen, die sie mit dieser Vorgehensweise erreicht haben. Im Grunde ist das Protokoll auch wirklich gut, um die Finger kletterspezifisch zu trainieren, es wird allerdings fälschlicherweise als Fingerkrafttraining bezeichnet. Denn aufgrund der hohen Wiederholungszahl und der vergleichsweise niedrigen Intensität ist es im Kraftausdauerbereich einzuordnen. Das zeigt sich besonders durch die körperliche Reaktion während des Trainings.
Das Halten und Loslassen entspricht dem Muster beim Klettern und erzeugt einen „Pump“ in den Unterarmen. Eben dieser Pump zeigt, dass wir uns im Bereich der „laktaziden anaeroben Energiegewinnung“ befinden. Das bedeutet, dass der Muskel seine Energie primär aus der unvollständigen Glykolyse speist. Unvollständig ist sie, weil die Energie schneller zur Verfügung stehen muss, als der biochemische Prozess diese liefern kann.
Dieser Prozess ist für den Körper kein Problem. Er lässt einfach ein paar Reste übrig, darunter das Laktat. Dieses Laktat sammelt sich in der Muskulatur und kann nur bei einer bestimmten Intensität weiter abgebaut werden. Sobald die Intensität der Übung diese Schwelle überschreitet, fängt der Muskel an zu brennen. Über einer bestimmten Laktatschwelle versagt die Muskulatur schließlich.
Mit dem folgenden Protokoll trainierst du die Kraftausdauer durch Verbesserung dieser Abbauprozesse und der Laktattoleranz der Muskulatur. Für die Protokollausführung hast du zwei Optionen:
- Option 1: Du besorgst dir ein Beastmaker und die passende App (die vorgeschlagenen Intervalle sind ziemlich fordernd und sollten deshalb nicht in einen Boulder-/Klettertag integriert werden).
- Option 2: Methode nach Eva Lopez. Diese kann in einen Boulder-/Klettertag integriert werden.
Für das Training wählst du einen Griff, der dich so fordert, dass du bei der letzten Wiederholung eines Satzes gerade so durchhalten kannst. Eine Session ist also erstmal nötig, um den richtigen Griff herauszufinden.
- 10 Sekunden hängen und 5 Sekunden Pause entspricht einer Wiederholung
- Diese Wiederholung absolvierst du vier bis fünf mal hintereinander
- Danach machst du eine Minute Pause und wiederholst dieses Vorgehen abhängig von deinem Trainingsniveau drei (ganz in Ordnung) bis fünf (ziemlich heftig) mal
Unabhängig vom Trainingsprotokoll sei nochmal daran erinnert: die Anpassung der Sehnen und Bänder läuft nicht so schnell ab wie die der Muskulatur. Das bedeutet, dass wir beim Klettern in der Lage sind, kleinere Griffe zu halten, aber die Belastbarkeit der Finger nicht unbedingt gewährleistet ist. Deshalb sollte man direkt nach einem Fingerkraftzyklus beim Klettern und Bouldern besonders aufmerksam sein, um sich nicht zu verletzten. Gleichzeitig ist es wichtig, die Gegenspieler der Fingerbeugemuskulatur zu stärken. Wie das funktioniert, kannst du in unserem Artikel über Antagonistentraining nachlesen.
5 Comments on the Article
Olla, Cooler Artikel und vor allem gute Antworten auf die oben gestellten Fragen !!!!! Deswegen hier eine kleine Flut. Ich habe mich in letzter Zeit viel mit dem Fingertraining auseinandergesetzt und stoße auf viele unterschiedliche Informationen. Bei meinem derzeitigen Training (zuvor war ich mit der Beastmaker-App beschäftigt) hänge ich 5s mache 3s pause wiederhole das 5mal mache 3min pause und wiederhole das ganze 3-5mal danach mache ich das ABC-Training. Bin ich hier im Maximalkraftbereich? Ich dachte eigentlich schon nur nachdem ich mir nach diesem Artikel nicht mehr sicher^^. Zudem frage ich mich wie viel Sinn es macht einzelne Finger bzw. Nur 2-3 Finger zu Trainieren? Und weiteres (ich weis ist jede Menge) Frage ich mich wie deine Meinung zu dem ABC-Training ist?(Just to be safe ABC: Wir starten mit zwei Klimmzügen und stoppen nach diesen bei einem Ellbogenwinkel von ca. 20 Grad. In dieser Stellung verharren wir nun für 4-6 Sekunden (A), nun folgen zwei weitere Klimmzüge, bevor wir in einem Winkel von 90 Grad für 4 – 6 Sek. blockieren (B). Erneut werden zwei Klimmzüge ausgeführt, bevor wir in einem Winkel von 120 Grad für 4- 6 Sekunden unsere Position halten (C).) Vielen dank schonmal Jakob
Danke für die Informationen, gibt es die möglichkeit Fingertraining Bsw. nach Eva Lopez´und am selben Tag andere Körperbereiche zu Trainieren? Liebe Grüße aus Leipzig
Super Artikel! Mal eine praktikable und simple Anleitung zum Fingerkrafttraining! Interessant wäre noch wie viele Pausetage zwischen den Einheiten notwendig, bzw. wie viele Einheiten pro Woche sinnvoll wären? Danke, Colin
Super infos, in der tat! Finde ich einen guten Leitfaden fürs häusliche zusatztraining! Eine frage habe ich aber noch, weil man da immer wieder kontroverses liest: fingertraining ZUSÄTZLICH zu kletter-/bouldereinheiten (ca. 3 mal pro Woche) oder STATTDESSEN?! Viele Grüße und schönes Wochenende!
Super interessanter Artikel und sehr verständlich.. :) Danke für die guten Infos - werden sofort umgesetzt *strong*