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Von Bergdramen und Drogenpflanzen: die Entwicklung des Berg- und Kletterseils

Inhaltsverzeichnis

So ein Bergseil ist eine klare und einfache Angelegenheit: zwei oder mehr Leute binden sich daran fest und sichern sich so gegenseitig vor dem Absturz. Oder sie reißen sich stattdessen gegenseitig in die Tiefe. Die Alpingeschichte ist voll von Mitreißunfällen, von denen die meisten weitgehend unbeachtet bleiben. Doch einer hat es dafür zu umso größerer Berühmtheit gebracht. Die Rede ist natürlich von der Matterhorn-Erstbesteigung 1865. Ein erschöpfter und überforderter 19-jähriger englischer Lord rutscht im Abstieg aus und zieht drei der anderen Erstbesteiger mit in den Tod, bevor das nagelneue und innovative Manila-Hanfseil aus England unter den von der Reibungshitze brennenden Händen des Bergführers Taugwalder Senior reißt.

Entwicklung des Berg- und Kletterseils
Peter Taugwalder, einer der Erstbesteiger des Matterhorns.

Dass diese symbolhaften Bilder bis heute die Vorstellungen rund ums Seil und Klettern prägen, kann man an fast jedem Hollywoodstreifen zum Thema „Bergsteigen“ bestaunen. Hier liegt das Seil noch immer locker um die breiten Schultern des sichernden Helden, der den im freien Fall befindlichen Kameraden mit einer „Oberkörperbremse“ abfängt, die selbst der beste Bergführer wohl höchstens noch bei einem kleinen Stolperer des Kunden schaffen würde.

Aber gut, wer will das Publikum schon mit Bremskräften, Sturzfaktoren oder Reihenschaltungen langweilen. Und wer will es der breiten Öffentlichkeit verübeln, dass sich das Hauptinteresse nun mal auf filmreife Dramen richtet. Auf zweifelhafte „Höhepunkte“ wie den Seiltod des Toni Kurz 1936 am Eiger oder das durchschnittene Seil von Simon Yates und Joe Simpson 1985 in den peruanischen Anden. Kein Wunder also, dass Seilrisse und Abstürze auch Eckpfeiler der Geschichte des Kletterseils sind –  in einem ansonsten eher unspektakulären „Seilalltag“.

Anfänge im Dunkeln der Geschichte

Entwicklung des Berg- und Kletterseils
Die Durchquerung einer Gletscherspalte am Mont Blanc im Jahre 1862. Seilschaft? Fehlanzeige.

Dieser Alltag hat sich seit den allerersten Anfängen kaum geändert, denn seit eh und je geht es bei der Verwendung des Seils darum, Gegenstände und Menschen entweder zu bewegen oder eben an der Bewegung zu hindern. Dieses simple Prinzip der Kraftübertragung ist womöglich beim Bau der ägyptischen Pyramiden zum ersten Mal systematisch und ausgefeilt genutzt worden. Doch wer hat das Seil erstmals zum Höherkommen an Erhebungen benutzt?

Vielleicht waren es die Alu Kurumbas in Südindien, die noch heute mit dicken, selbstgemachten Tauen aus Lianen an bis zu 150 m hohen Felsklippen herumklettern, um den ansässigen Riesenbienen den Honig wegzuangeln. Oder ein anderer der diversen Stämme und Völker, die bei ihren erstaunlichen Kletterkünsten teils ebenso erstaunliche Seilkonstruktionen verwenden. Diese bestehen, wie die ersten Bergseile, meist aus Pflanzenfasern, welche auf mehr oder weniger komplexe Weise zunächst zu Garn gepresst und gesponnen werden, der dann wiederum umeinander geflochten wird.

Erster Einsatz am Berg

Den ersten „richtigen“ Einsatz am Berg zum Sichern schwieriger Einzelstellen und als Steighilfe bekommt das Seil vermutlich erst mit der Wende zum 19. Jahrhundert. Zuvor gab es – abgesehen von Einzelfällen wie Petrarcas legendärer Erstbesteigung des Mont Ventoux –, so gut wie kein Interesse an Kletterei und Bergsteigerei im heutigen Sinne. Berge wurden äußerst selten und aus religiösen oder politischen Motiven erstiegen. Mit der „Geburt“ des modernen Alpinismus, der Erstbesteigung des Mont Blanc im Jahr 1786, kommt die Wissenschaft als „offizielles“ Motiv hinzu.

Das Seil kommt aber trotz der langen, spaltenreichen Gletscher des Mont Blanc nach wie vor nicht zum Einsatz. Erst bei der Großglockner-Erstbesteigung 14 Jahre später wird die Verwendung von fixierten Seilen wohl erstmals ausdrücklich erwähnt. Ob das wirklich der allererste systematische Einsatz des Bergseils ist, lässt sich an dieser Stelle nicht sicher sagen. Dafür müsste man wohl sämtliche Besteigungsdokumentationen jener Zeit durchforsten.

„Öko“, aber nicht sicher

Entwicklung des Berg- und Kletterseils
Ein klassisches Hanfseil. Richtig öko, aber nicht wirklich sicher.

Bis zur flächendeckenden Verwendung der Seile dauert es nochmals viele Jahrzehnte: erst gegen Ende des 19. Jh. beginnen die Bergführer in den Alpen ihre Kunden mit dem Seil zu sichern. Anfang des 20. Jahrhunderts kommen dann die Mauerhaken auf, „die eine Absicherung der Kletterer auch im Vorstieg erlauben“. Diese „Absicherung“ ist für die Vorsteiger jedoch nicht viel mehr als ein nervenberuhigendes Placebo, denn das bevorzugte Rohmaterial der Seile ist die Hanffaser.

Die ist zwar reißfester als anderes Pflanzenmaterial, eignet sich besser für längere Seile und fault weniger schnell, hat aber dennoch sehr begrenzte „technische Kapazitäten“. Denn auch die Hanfseile faulen irgendwann, oftmals sogar von innen zuerst. Das wird vielen Bergsteigern zum Verhängnis, deren Seile von außen noch einen guten optischen Eindruck machten.

Ein weiterer Nachteil aller pflanzenbasierten Seile ist ihre Anfälligkeit gegen die Kälte, in der sie schnell steif und unhandlich werden. Dass sie außerdem nicht genügend Seildehnung aufweisen, um eine nach heutigen Maßstäben sichere Fortbewegung in der Seilschaft zu ermöglichen, dürfte auf der Hand liegen. Alternativ gibt es in der ersten Hälfte des 20. Jh. noch Seile aus reiner Seide, die allerdings sehr teuer sind und nur geringfügig mehr Sicherheit und Funktionalität bieten.

Explosion der Fortschritte

Entwicklung des Berg- und Kletterseils
Wanda Rutkiewicz im Jahre 1968 mit einem modernerem Seil und einer einfachen Torso-Sicherung.

Um 1940 kommt der technische Durchbruch mit den ersten gedrehten Nylonseilen aus Amerika. Die deutsche Firma Edelrid erfindet 1953 das Kernmantelseil, das bis heute der Industriestandard für alle Bergseile ist. Der Mantel dient dabei als Schutz gegen Abrieb, Feuchtigkeit und UV-Strahlung für den Kern aus in sich verdrehten Polyamidsträngen. Gleichzeitig macht er das Seil griffig und lässt es geschmeidig gleiten. Wie so ein Seil entsteht, durften wir uns schon mal bei Edelrid anschauen.

Die Seilhistorie besteht fortan aus einer immer schnelleren Abfolge von technischen Innovationen, Verfeinerungen und Diversifizierungen. Doppelseile und Zwillingsseile werden erfunden, Imprägnierungen kommen ebenso hinzu wie Sicherheitsnormen und Prüfsiegel, ohne die kein Seil mehr verkauft werden darf.

Der Siegeszug der Synthetikfasern ist seitdem ungebrochen und wird es weiter bleiben. Die Bergsportgemeinde kann dafür dankbar sein, denn nur die Kunststoffe ermöglichen Touren wie die aufs Matterhorn auch für alpinistische Otto-Normalos zum kalkulierbaren Risiko. Der Hanf hingegen ist fast nur noch als Drogenpflanze bekannt, was durchaus etwas mit dem Aufstieg der erdölbasierten chemischen Industrie zu tun hat.

Entwicklung des Berg- und Kletterseils
Nicht zum Verzehr geeignet: Moderne Kunststoffseile halten widrigsten Bedingungen stand.

Die ist nämlich mit den bis in die Zeit des zweiten Weltkriegs noch preiswerten Naturprodukten (die weit mehr als nur Seile umfassten) eine lästige Konkurrenz losgeworden.

Heute sorgt die Erwähnung von Bergseilen aus Hanf meist für Belustigung, oft begleitet von der leicht dämlichen Scherzfrage, ob die Bergsteiger anno dazumal ihre Seile hätten rauchen können.

Ja hätten sie, aber außer veritablen Lungenschäden wäre dabei nicht viel herumgekommen. Einen bunten Kiffer-Rausch zwischen Lodenmantel und Führerpickel hätte es jedenfalls kaum gegeben: der Nutzhanf enthielt wenig bis gar nichts vom berauschenden Wirkstoff THC.

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Bergfreund Stephan

“Flat is boring”, dachte ich mir als Kind des Flachlands immer. Bergsport war die Lösung des Problems. Aber nicht aller Probleme, wie ich beim Durchwursteln der Disziplinen von Bouldern bis Hochtouren herausfand. “Egal”, dachte ich mir und fühle mich heute bei alpinen Touren mit leichtem Gepäck sauwohl.

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